Freitag, 14. März 2008

Analfissur und Hämorrhoiden (- mit neuem Nachtrag!!!)

Natürlich wissen jetzt schon wieder alle, worum es geht. Denn ich bin ja immer ein wenig hinterher und erlange meine Erkenntnisse aus zweiter oder dritter Hand, wenn es eh schon alle wissen.
Aber egal. Ich fahre jedenfalls für eine Woche in Urlaub zu meiner heiß geschätzten und hoch geliebten Verwandschaft, und nehme ihr wisst schon welches Buch mit als Reiselektüre (neben dem allgegenwärtigen Hegel, versteht sich) - genau: "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche. Und das verspricht unterhaltsam zu werden, schließlich geht es um eine junge Frau mit blumenkohlförmigen Hämorrhoiden, die sich bei der Porasur in die Rosette schneidet, deswegen ins Krankenhaus kommt sich dort "mit ihrem Körper untenrum vorne und untenrum hinten beschäftigen" muss - weil Charlotte Roche es so will. Das ganze soll so eine Art Anti-Hygienefimmel-Porno sein und ich bin schon sehr gespannt.
Genauere Erläuterungen dazu gibt's hier und hier und eine rührende Analsex-Story von Roger Willemsen hier. Aber was sag ich, kennt ihr ja alles schon.

Nachtrag vom 29. 03. 2008:

Ich weiß natürlich, dass ihr alle ganz furchtbar neugierig seid und unbedingt wissen wollt, wie be nun diesen ominösen "Vivamoderatorinnenroman" fand! Und das will ich euch auch auf keinen Fall vorenthalten!

Hier meine äußerst differenzierte Beurteilung:
Gesamturteil: Sehr gut (1,3)
Sprachliche Qualität: Gut (2,0)
Formaler Aufbau: Gut (2,3)
Inhalt: Sehr gut (1,3)
Konsequenz der Ausführung: Sehr gut (1,0)
Wichsfaktor (Skala von null bis fünf): 2,5
Ekelfaktor: je nach Robustheit des Lesers (ich hörte von Frauen, die das Buch schon in der Mitte angewidert zur Seite legten); in meinem Fall: 2
Ekelhöhepunkte: Kotze (von zwei Menschen) wird (von diesen zwei Menschen) aus einem Eimer getrunken, blutige Tampons werden in Fahrstühlen abgelegt, Mineralwasser wird im Mund gegurgelt und in die Flasche zurückgespuckt um es hernach Gästen anzubieten, mit einer grillgut- und rußbehafteten Grillzange wird ein Tampon aus der Vagina geholt (und die Zange danach ungewaschen zurückgelegt), auf verdreckten Bahnhofstoilettensitzen wird extra einmal mit der Muschi herumgewischt, um die Angst der Hygienefanatiker vor Krankheiten ad absurdum zu führen, es wird in der Nase gepopelt und das zu Tage geförderte sodann gegessen, ebenso werden Hautkrusten und ausgedrückte Pickel verspeist - und das alles von der Hauptfigur des Buches, der 18-jährigen Helen Memel, die das natürlich überhaupt nicht eklig findet, sondern vielmehr toll und teilweise sogar erregend.
Autoerotikfaktor: sehr hoch

Urteilsbegründung:
Auch wenn das Buch literarische Schwächen haben mag (die so groß allerdings auch nicht sind, finde ich), ist die Hauptfigur Helen Memel einfach klasse erfunden. Sie ist nämlich äußerst konsequent. Konsequent in ihrer Abneigung gegen Hygienevorschriften, die ihr von verklemmten Leuten (besonders ihrer Mutter) gemacht werden, die ständig betonen, dass Hygiene ungemein wichtig ist und dass man krank wird, wenn man nicht peinlich genau darauf achtet. Und dass überhaupt alles ganz furchtbar peinlich und eklig ist, was von den Hygienevorstellungen abweicht, die vor allem darin bestehen, dass sämtliche Körperausscheidungen, -gerüche und -flüssigkeiten bäh sind und dashalb ständig weggeputzt und überdeckt und versteckt werden müssen, wenn sie denn schon vorhanden sein müssen. Das Schöne an dem Buch ist, dass Helen Memel ungemein konsequent gegen diese Auffassungen angeht und mit wissenschaftlichem Eifer die Hygienemythen zu widerlegen trachtet. Deswegen reicht es nicht, dass sie sich auf die Klobrillen öffentlicher Toiletten draufsetzt, nein sie wischt noch einmal extra mit der Muschi die Brille entlang, um endgültig zu beweisen, dass man davon nicht krank wird. Der andere schöne Zug an Helen Memel (und Charlotte Roches Roman) ist der, dass sie in Bezug auf Sex überhaupt kein bisschen ein "versautes Stück" ist (im Gegensatz zu dem, was Jessica Zeller in der Jungle World schreibt - die aber überhaupt sehr viel Halbgares und Blödes schreibt, so dass ich mich sehr geärgert habe - zum Beispiel die Story sei "dünn" und das Buch funktioniere nur als Provokation). Helen Memel ist vielmehr geradezu unschuldig in ihrer zugleich außerst tabulosen Ausübung der Sexualität. Unbefangen und ohne Verklemmungen erforscht sie jeden Winkel ihres eigenen Körpers und fremder Körper (unter anderem zu diesem Zweck besucht sie zum Beispiel Bordelle) und probiert aus, was man damit alles machen kann. Aber dabei spielt kein einziges Mal ein irgendwie geartetes Tabu, das gebrochen würde, der Ruch des Verbotenen, die Aufregung des Unmoralischen oder Ähnliches eine Rolle, was ja sonst gerade in der erotischen und pornographischen Literatur gerne aufgegriffen wird, um dadurch erst die gewünschte Erregung beim verklemmten Publikum zu erzielen. Hier dagegen geht es vor allem um die Neugier und äußerst ausgeprägte Phantasie von Helen Memel, der immer neue Dinge einfallen, die man mit all den schönen Körperteilen und -funktionen so anstellen kann - und die auch keine Hemmungen hat, all das auszuprobieren, was ihr so einfällt - auch (oder gerade), wenn es mit Schmerzen und Verletzungen verbunden ist. Und emanzipatorisch oder vielleicht auch feministisch ist das Buch genau deswegen, weil Helen sich in keiner Hinsicht etwas sagen lässt, sondern alles selbst ausprobieren will und sich dabei von keinerlei vorgegebenen Grenzen aufhalten lässt, ob Hygienenormen oder "gesunder Menschenverstand" (oder von fast keinen: das Nasepopeln hat sie in die Einsamkeit der abgeschlossenen Toilette verlegt, weil das ihre Freunde zu irritieren schien). Jedenfalls schämt sie sich nicht im geringsten dafür, dass sie Dinge erregend findet, die andere (oder gar die meisten) total eklig und abstoßend finden. Auch schön ist, dass Helens Sexualität in hohem Maße autoerotisch ist, sie masturbiert viel und mit Freude und experimentiert dabei - nicht nur mit Avokadokernen. Dieses ziemlich idiosynkratische Element von Helen Memels Sexualität, das ungehemmt ausgelebt wird, verbunden mit ihrer wissenschaftlichen Neugier, finde ich, ist das eigentlich Tolle und auch Emanzipatorische an dem Buch.
Alles in allem: von Helen Memel kann man viel lernen.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

oh jeah, da bin ich ja mal echt auf dein urteil gespannt! :-)

T☺bias hat gesagt…

Nicht zu vergessen das hier (= Roche bei Raab).

Anonym hat gesagt…

wer hegel und vivamoderatorinnenromane gleichzeitig zu lesen versucht geht unabsehbare risiken für seinen geisteszustand ein!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Anonym hat gesagt…

na gut, ich nehme mein medienabschätziges & bügelfaltiges urteil zurück, akzeptiere im vertrauen auf deinen verstand den oben ausgeführten wert des buches und kann nach diesen einblicken trotzdem nicht anders als hinzuzufügen: doch lieber hegel!