Heute habe ich mich mal wieder auf die Straße getraut, was ich aus wohlerwogenen Gründen normalerweise vermeide, und naserümpfend festgestellt: Die beliebte Werbekampagne "Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht" der noch beliebteren sog. BILD-Zeitung ist wieder da.
Schon vor einigen Monaten warb obengenannte Publikation unter diesem Slogan mit den Portraits von Menschen wie Einstein, Galilei, Gandhi, oder Martin Luther King. (Auch an ein Plakat mit Freud meine ich mich zu erinnern, kann das aber momentan nicht verifizieren.) Ich hielt das für Realsatire at its best und fand es überflüssig, das noch zu kommentieren. Dass die abgebildeten Berühmtheiten der beworbenen Gazette geistig, moralisch und politisch denkbar fernstanden, bedarf keiner gesonderten Erwähnung, sondern macht gerade die Pointe der Kampagne aus. Insofern hält sich das aufklärerische Potential von Satiren der Satire - die Käpt'n Blaubär, Goebbels oder meinetwegen auch Dutschke und Walraff in die Plakate einsetzen - meines Erachtens in engen Grenzen. Der Subtext lautet doch gerade: Die sind tot und können sich nicht mehr wehren; unsere Millionenleserschaft andererseits ist tatsächlich so dumm und ungebildet, dass sie sich nicht verhöhnt fühlt, wie sie ja eigentlich müsste. Der Witz besteht gerade darin, dass die BILD, indem sie sich das Renommee dieser Menschen einfach symbolisch aneignet, beweist: Es kommt gar nicht auf die "Wahrheit" an, und ihr könnt sie solange "sagen", wie ihr wollt - es wird euch nichts nützen, denn nicht Wahrheit, sondern Macht setzt Recht. Von der moralischen und aufklärerischen Leistung der Abgebildeten ist nichts geblieben als ein bisschen symbolisches Kapital, das jedem gehört, der in der Lage ist, es einzusetzen, gleich zu welchem Zweck.
Bald darauf begann die zweite Runde. Statt Realsatire gab es nunmehr absurden Humor mit Tendenz zur Antiwerbung. Vom einen Tag auf den anderen wurden Konterfeis der mutigen Männer ersetzt durch brillante und wahrhaft BILDeske aperçus wie "Ja, mein Busen ist gemacht", "Mutti, du kannst nicht kochen" oder "Schatz, ich habe dich betrogen".
Dann war, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, eine ganze Weile lang Ruhe - bis heute. Und was sehen meine verwunderten Augen? Es gibt wieder Prominente, aber diesmal der Exegese bedürftige. So wirbt die BILD neuerdings mit Luther und dem berühmten Photo von Kohl und Mitterand beim Händchenhalten in Verdun. Nun fragt man sich natürlich, welche "Wahrheit" die beiden "Mutigen" dort ausgesprochen haben könnten. Oder will BILD mehr auf die moralische Lehre hinweisen, die aus dieser Episode zu ziehen ist - etwas in der Art von: "Franzosen und Deutsche können doch Freunde sein! Oder jedenfalls Franzosen und Rheinländer"? Oder womöglich: "Weltkrieg ist nicht schön, aber vor allem muss man sich nachher wieder vertragen"?
Nun aber Herr Luther... Welche der zahlreichen von ihm markant formulierten Wahrheiten könnte gemeint sein? Vielleicht: "Darumb auch ungehorsam grosser sund ist dan totschlag, unkeuschheit, stelen, betriegen" (Von den guten Werken, 1520)? Oder eher: "Der esel will schlege haben, und der pofel will mit gewalt regirt seyn, das wuste Gott wohl, darumb gab er der oberkeyt nicht eynen fuchsschwantz sondern eyn schwerd ynn die hand" (Ein Sendbrief von dem harten Büchlein gegen die Bauern, 1525)? Vermutlich doch eher der ähnlich gelagerte Bauernkriegs-Klassiker: "Drumb soll hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teufflischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund totschlagen muss." (Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525)
Ziemlich sicher nicht gemeint sind dagegen Luthers Erkenntnisse aus seinen beliebten Schriften "Von den Juden und ihren Lügen" und "Vom Schem Hamphoras". (Eine interessante Zitatensammlung zum Thema "Luthers Antisemitismus" findet sich hier. Es handelt sich um eine Seite von kirchenfeindlich gesonnenen christlichen Eiferern.)
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4 Kommentare:
"Ziemlich sicher nicht gemeint", oder gerade doch. Nur weil sich Springers Schreibchargen per Vertrag von Antisemitismus fernzuhalten haben, heißt das noch nicht, daß diese Verbreiter der einfachen Antworten nicht doch insgeheim...
Jedoch vertrauen sie lieber auf einen "Mutigen", der die "Wahrheit" bereits ausgesprochen hat.
Klingt logisch. Und ist deshalb wohl falsch. Wir reden ja über die BILD.
Leider muss ich gestehen, der Argumentation nicht ganz folgen zu können. Ob Mitarbeiter von BILD privat und insgeheim möglicherweise antisemitische Ressentiments hegen, spielt keine Rolle, solange es ihnen nicht gelingt, die Linie des Blattes zu unterlaufen oder zu verändern. - Worauf sich der Satz "Jedoch vertrauen sie lieber auf einen 'Mutigen', der die 'Wahrheit' bereits ausgesprochen hat" bezieht, erschließt sich mir nicht. Ist Luther gemeint, und zwar gerade der Antisemit Luther? Oder Axel Springer, der den Publikationen seines Verlages strenge Anitsemitismus-Abstinenz verordnet hat? Beides ergibt im Kontext nicht richtig Sinn. Daher ist mir auch nicht klar, was genau "logisch klingt". Was auch immer es sein mag, sein logischer Klang allein kann meiner Ansicht nach nicht nahelegen, dass es falsch sein müsse. Die BILD ist ja nicht jeglicher Logik abhold, im Gegenteil. Sie liebt die einfach-allzueinfachen Schlüsse und ihre trügerische Folgerichtigkeit. Das Problem liegt in der Unterkomplexität, nicht in der logischen Fehlerhaftigkeit der Argumentation, sowie (sehr oft) in den angebrachten Zweifeln an der Tragfähigkeit der Prämissen.
Klingt unlogisch? Dann ist's vielleicht doch richtig. Oder auch wieder nicht.
Der Mutige sollte Luther sein, ja. Alles weitere ist pure Spekulation.
Als Nachtrag noch ein paar sachdienliche Beiträge von bildblog.
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