Dienstag, 30. Januar 2007

Familienalbum

Ich gebe zu, ich bin ein wenig desolat aus meinem Familienurlaub zurückgekommen. Psychisch, nicht physisch. Deswegen hätte ich gestern fast den absoluten no-go-Blogger-Fehler begangen und in sehr, sehr schlechter Stimmung ein Post geschrieben - aber dann hatte ich zum Glück sowieso keine Zeit dafür. Ich werde euch jetzt auch nicht damit langweilen, von meinem Überdruss, meiner Trägheit und meinem stetig zunehmenden Gefühl der Sinnlosigkeit all dessen, was ich tue, zu erzählen, denn ein Familienurlaub mag einen auf all dies erneut stoßen, aber Lösungen hält er nicht bereit. Deshalb verschiebe ich die Berichterstattung darüber, bis ich neue Ideen habe und Ergebnisse vorzuweisen.

Sattdessen erzähle ich euch ein wenig von meiner Großmutter.
Denn im Grunde habe ich mich hauptsächlich von ihr verwöhnen lassen und mich auf diese Weise ein wenig in meine Kindheit zurückversetzt. Außerdem hat sie mir zum ersten Mal Kinder- und Jugendphotos meines Vaters und von ihr selbst und meinem Großvater gezeigt, inklusive Jungmädel- und Wehrmachts-Uniformen, Kriegsgeschichten und Erlebnisberichten über das 27jährige Zusammenleben mit ihrer herrischen Schwiegermutter. Ich muss gestehen, dass es mir nicht leicht fällt, darüber ein Urteil zu bilden.
Mein Großvater wurde 1943 zur Wehrmacht eingezogen und war dann von 1944 bis 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. Meine Großmutter war als Jugendliche und junge Erwachsene erst bei den Jungmädels, dann beim BDM. Später dann in keiner Vereinigung mehr. Aus ihrer Perspektive stellt sich das dar, wie eine Mädchenfreizeitgruppe, man machte Auflüge und Wanderungen - von Politik ist keine Rede. Von Hitler als Person hat man nicht besonders viel gehalten, aber zunächst die Veränderungen als positiv wahrgenommen. Das Verschwinden der Arbeitslosigkeit (oder auch eher: der sichtbaren Arbeitslosen) war zuerst das auffälligste Zeichen, erzählte meine Großmutter. Und dann dachte man: naja, dieser Hitler, der hat vielleicht was drauf. Vorher stapelten sich die Fahrräder vor dem Amt, das für die Arbeitslosen zuständig war, als Hitler kam, waren dort kaum noch welche. Von Juden in ihrer Umgebung wusste sie nichts - sie kannte keine. Dass Kommunisten zur "Umerziehung" in ein Lager in der Nähe kamen, hatte sie mitgekriegt. Im Nachhinein fühlte man sich dann von ihm betrogen, sagte sie, als man von den Morden und Verbrechen erfuhr, aber auch wegen des Krieges. Der Bruder meiner Großmutter fiel in der Nähe von Stalingrad. Sie wusste aber auch noch, dass sie mit Anfang Zwanzig (sie ist Jahrgang 1921) ihre Skier für die Soldaten an der Ostfront gespendet hatte. Es gab einen Aufruf, Skier zu spenden, damit die Soldaten in Russland besser im dortigen Winter zurechtkommen.
Wie hat meine Großmutter das alles damals wirklich wahrgenommen, und was ist auf nachträgliche Verdrängungsleitungen zurückzuführen? Was hat man wirklich gewusst und was nicht und was hätte man wissen können und unter welchen Umständen ist das vorwerfbar, wenn man es nicht gewusst hat? Ist das einfach nur naiv oder blind oder schaute man weg? Oder ist nicht vielmehr, wenn, dann das Verhalten nach dem Ende des NS-Regimes relevant - wie man mit dem Wissen umging, was man tat, um das eben Geschehene, an dem man unwissend, unwillentlich oder wie auch immer doch beteiligt war, aufzuarbeiten? Und ist das heute noch wichtig, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen? Und welches Recht habe ich, meine Großmutter darüber auszufragen und mir Urteile anzumaßen? Und sollte all das irgendwelche Auswirkungen auf mein Verhältnis zu meiner Großmutter heute haben, die ich als äußerst liebenswürdigen, großherzigen und bescheidenen Menschen kenne? Wie kann ich diese ihre Wesensart schätzen - was ich tue, denn ich mag meine Großmutter sehr, sehr gerne - und gleichzeitig anerkennen, dass sie in der NS-Zeit, als sie so jung auch nicht mehr war, dass es vieles entschuldigen würde, sich möglicherweise auf eine Weise verhalten hat, die die damaligen Grausamkeiten mitermöglicht hat, wenn auch nicht absichtlich oder wissentlich, sondern lediglich passiv und vermutlich naiv und "unpolitisch"? Für was ist ein Mensch überhaupt verantwortlich (zu machen)? Das sind die nicht sehr originellen Fragen, die ich mir dennoch stelle.
Im Moment habe ich keine Antworten, aber wahrscheinlich ist das auch nicht so relevant. Es kommt eigentlich auch überhaupt nicht darauf an, was ich von meiner Großmutter denke. Vielmehr ist es einfach interessant, Berichte aus dieser Zeit aus der Perspektive einer vermutlich recht durchschnittlichen, kleinbürgerlichen jungen Frau in Schwaben zu hören und auf diese Weise etwas darüber zu lernen, wie der Nationalsozialismus funktioniert hat.

Ich habe übrigens auch vor kurzem ein interessantes Interview mit einer Historikerin, Dagmar Herzog, gelesen, über Sexualität im Nationalsozialismus. Es ging ihr darum, zu sehen, dass die Sexualpolitik im NS zwar in Bezug auf Minderheiten und von der heterosexuellen deutschen Norm abweichende Menschen sehr repressiv war, aber für den "normalen deutschen Menschen" und insbesondere auch Frauen durchaus liberal und aufgeklärt war, was zum Beispiel Sex vor der Ehe, den weiblichen Orgasmus und Spaß am Sex angeht - im Vergleich zur Zeit davor und unmittelbar danach, in den Fünfzigern. Das ist ein interessantes Faktum, finde ich. Ihre These war, dass die Prüderie der Nachkriegszeit eine Art Verdrängungsleistung und Abwehr des dann als zügellos und unmoralisch klassifizierten NS war, mit der sich die Deutschen, insbesondere konservative Kräfte und die Kirchen, von dieser Zeit absetzen und moralisch reinwaschen wollten. Erst in den 60ern kam der Umschwung und die Ansicht, der NS sei prüde und repressiv gewesen. Die 68er sind so eher eine Antipostfaschistische Bewegung gewesen, wie sie sagte, als eine Antifaschistische.
Dagmar Herzog hat dazu auch ein Buch geschrieben, das ich bislang aber nicht gelesen habe: "Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts" (aus dem Englischen, München 2006).

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