Freitag, 19. Januar 2007

Hegelei

Vor einiger Zeit präsentierte ich im Rahmen meines Posts "Mehr Freiheit für Geschlechtsteile" einen als "Zitat der Woche" ausgewiesenen Satz des populären nudistischen Pazifisten und atheistischen Sozialisten Bertrand Russell. (Kleine Randbemerkung: Liest überhaupt jemand die älteren Posts? So ein Blog wird ja leider verkehrt herum angezeigt. Man sollte es eigentlich von unten nach oben lesen. Wer die neuesten Einträge zuerst liest, versteht oft den Zusammenhang gar nicht! Also, schön am Anfang, also hinten, anfangen. Denn, wie Kenner wissen, alles, was wir posten, ist unglaublich wichtig.) Das war, technisch gesehen, schon vorletzte Woche. Hier nun endlich das nächste Zitat der Woche. Und wer könnte ein passenderer Nachfolger Russells sein als Georg Wilhelm Friedrich Hegel? (Für jene, die sich die Reihenfolge der Vornamen nicht merken können, hier meine Eselsbrücke: Es handelt sich um den Großen Weltgeist Fersteher, also G. W. F. Hegel.) Bekanntlich waren es Russell und G. E. Moore, die den Briten die Hegelei ein für allemal austrieben. Marx sagt irgendwo, dass Hegel irgendwo sage, in der Weltgeschichte ereigne sich alles zweimal, aber vergessen habe hinzuzufügen: einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Marx vergaß hinzuzufügen: das zweitemal passiert es außerdem in der umgekehrten Reihenfolge. (Es ist nur ein kleiner rhetorischer Scherz, dass Marx das "irgendwo" gesagt habe, denn ich weiß natürlich, wo er es sagt: Es handelt sich um den Anfang des "18. Brumaire des Luis Bonaparte".) Hier also fällt Hegel die Ehre zu, die Russellei auszutreiben, und sei es auch nur in Form einer Farce; obwohl die Ereignisse in Cambridge vor hundert Jahren zugegebenermaßen einer tragischen Dimension eher entbehren. - Unter den vielen großartigen Zitaten Hegels habe ich eines ausgewählt, das bislang wenig bekannt ist und außer dem typischen enigmatischen Tiefsinn auch Hegels Talent für sublime Komik wunderbar exemplifiziert; darüber hinaus zeichnet es sich im Gegensatz zu diesem Text durch einen erfrischenden Mangel an Weitschweifigkeit aus. Es handelt sich um eine Randbemerkung zu einem Manuskript, das erst posthum veröffentlicht wurde, unter anderem unter dem Titel "Jenaer Realphilosophie (1805/06)". Ich zitiere nach dem von Gerhard Göhler herausgegebenen Band „Frühe politische Systeme“, dort S. 223, Fußnote 4:

"Die nordamerikanischen Wilden töten ihre Eltern; wir tun dasselbe"

Also ich finde das sehr lustig.

PS: Habt ihr euch auch schon gewundert, welcher Schwachkopf eigentlich auf die Idee gekommen ist, den Stuttgarter Hauptbahnhof in großen Lettern gleichsam unter die Überschrift zu stellen: "... daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist. - G. W. F. Hegel"? Es handelt sich hierbei, wie eigentlich unschwer zu erkennen ist, um einen Nebensatz. Und der nimmt sich irgendwie seltsam aus als Motto eines Bahnhofs, der nur ein paar Meter weiter unten, also auf Augenhöhe, stolz verkündet, nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg irgendwann, ich glaube in den Fünfzigern, wieder aufgebaut worden zu sein. Ich weiß nicht, wann das Hegelzitat dort angebracht wurde, aber es handelt sich meiner Einschätzung nach um einen typischen Fall vorzeitiger oder jedenfalls unbeabsichtigter Postmoderne. Man sollte das in die Lehrbücher aufnehmen als schwer zu übertreffendes Beispiel für einen schweren Fall von Dekontextualisierung; denn es handelt sich um eine Stelle aus der "Phänomenologie des Geistes", in der Hegel sich mit der erkenntniskritischen Philosophie Kants auseinandersetzt.

3 Kommentare:

T☺bias hat gesagt…

„Gut, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“ - ein kluger Satz, wie ich finde :-)

spit_Z hat gesagt…

Unglaublich - es liest tatsächlich noch jemand unsere Einträge vom Januar! Super, dafür gibt's einen Ehrenpreis, lieber Tobias (und liebe andere Leser der alten Einträge), wenn auch nur "in Gedanken". - Aber wie kommt das "Gut" in das Hegelzitat?

Anonym hat gesagt…

„Gut, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“ – Hegel und Tobias

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